Handschrift des Monats Mai 2023: Grundlagenwerk für das Theologiestudium - Der Sentenzenkommentar des Thomas von Aquin, Cod. 1226

01.05.23, 00:01
  • Handschrift des Monats Aktuelles

Jede theologische Ausbildung braucht ihre Lehrwerke. Wegen ihrer großen Bedeutung wurden die Werke des Thomas von Aquin auch über 200 Jahre nach ihrer Entstehung immer wieder abgeschrieben.

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Ein Großteil der aus dem Spätmittelalter erhaltenen Handschriften sind sogenannte Gebrauchshandschriften – Manuskripte also, die von einem oder mehreren Schreibern erstellt wurden, um bestimmte Texte für den persönlichen oder gemeinschaftlichen Gebrauch schnell zur Hand zu haben. Weil sie keine repräsentativen Ansprüche erfüllen müssen, kommen sie recht unspektakulär daher und sind mit wenig Buchschmuck versehen. Da kommt es schon einer Ausnahme gleich, dass diese Abschrift des Sentenzenkommentars des Thomas von Aquin zu Beginn mit einer vergleichsweise riesigen zweifarbigen Initiale ausgestattet ist, die innen wie außen mit Blatt- und Pflanzenranken im Fleuronnée-Stil verziert wurde (fol. 1r).

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Die Farben Rot und Blau sowie die Verzierungen des Buchstabens M in der gräulich-braunen Farbe der Schreibtinte verraten allerdings auch, dass hier kein eigener Buchmaler am Werk war, sondern dass wahrscheinlich der Schreiber selbst auch die Initiale gestaltete. In einer Subskription, einem Schlussvermerk am Ende seiner Arbeit, hinterließ er sogar seinen Namen, seine Herkunft und das Datum: „Liber fratrum sanctae Crucis Conventus Altinemoris Leodiensis dyoceseos. Per Mathiam fratrem eiusdem domus natum de Ercklens scriptus Anno domini m ccc lxx In die“ (fol. 249r). Auf Deutsch: „Dieses Buch gehört den Brüdern des Kreuzherrenkonvents zu Hohenbusch in der Diözese Lüttich. Es wurde geschrieben von Mathias aus Erkelenz, einem Bruder dieses Hauses, im Jahre 1470 am Tag…“ – Leider bricht der Eintrag an dieser Stelle ab, so dass uns der genaue Tag der Vollendung dieser Abschrift vorenthalten bleibt.

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Mathias aus Erkelenz hinterließ seinen Namen bereits einige Seiten vorher, nämlich am Ende des eigentlichen Werkes, das er abschrieb, fügte jedoch auf den folgenden elf Seiten noch ein detailliertes Inhaltsverzeichnis hinzu (fol. 244r). Aus den archivalischen Quellen des Kreuzherrenordens erfahren wir nur wenig mehr über den Schreiber Mathias. Er hat wohl in Hohenbusch seine Gelübde abgelegt, tritt dort 1470 als Schreiber dieser Handschrift in Erscheinung und stirbt 1485 als Prior des Kreuzherrenkonvents Brüggen. Dieses Kloster war 1479 durch Graf Vinzenz von Moers und Saarwerden gestiftet worden, wurde aber erst 1484 dem Kreuzherrenorden inkorporiert. Mathias war demnach wohl der erste Prior der noch kleinen, später durchaus wohlhabenden Gemeinschaft.

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Seine Abschrift des Sentenzenkommentars fällt jedenfalls noch in die Zeit seines Wirkens in Hohenbusch. Weitere Abschriften, die mit seinem Namen gekennzeichnet wurden, sind nicht erhalten – was freilich nicht heißt, dass es sie nicht gegeben haben könnte. Im Gegenteil deutet der routinierte Gebrauch der kleinen und an Abkürzungen reichen, aber trotzdem gut lesbaren Schrift – einer sogenannten Scriptura Hybrida libraria – auf einen erfahrenen Schreiber hin. Außerdem war Mathias künstlerisch begabt, was neben der rot-blauen Eingangsinitiale und den vielen weiteren roten und blauen Initialen auch die reich verzierte blaue P-Initiale am Beginn eines Abschnitts über die Eucharistie belegt (fol. 38v).

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Das führt zu der Frage, welchen Text Mathias hier überhaupt abgeschrieben hat. Sentenzenkommentare sind von nahezu allen Theologen des Mittelalters erhalten, weil sie zum Pflichtprogramm in der Ausbildung zum theologischen Magister gehörten. Nach einem Studium von sieben bis acht Jahren wurde man Baccalarius und bekam das Recht, unter Aufsicht eines Magisters über die Libri Sententiarum (Sentenzen) des Petrus Lombardus zu unterrichten. Der aus Norditalien stammenden Theologe Petrus lehrte Mitte des 12. Jahrhunderts an der Kathedralschule von Notre-Dame in Paris und wurde später dort Bischof. In vier Büchern stellte er die Aussagen (sententiae) der Kirchenväter zu wichtigen theologischen Problemen zusammen und schuf damit die erste systematische Darstellung der Theologie. Die vier Bücher handeln über Gott und Trinität, die Schöpfung und den Menschen, Christus und Erlösung sowie die Sakramente und Eschatologie. Ihre Kommentierung durch Theologiestudenten gehörte mindestens seit der Mitte des 13. Jahrhunderts zum Pflichtprogramm ihrer Ausbildung (fol. 51v).

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Nach seinem vierjährigen Aufenthalt in Köln als Schüler des Albertus Magnus unterzog sich auch Thomas von Aquin zwischen 1252 und 1254 an der Universität von Paris dieser Übung. Der Sentenzenkommentar bot ihm dabei die Möglichkeit, eigene Schwerpunkte zu setzen. Mehr als die eher praktisch orientierte Summa theologiae gilt der Kommentar daher als das akademische Grundlagenwerk des Aquinaten, weil darin seine Lehrmeinungen am deutlichsten hervortreten. Für den Kreuzherrenkonvent von Hohenbusch war das Werk auch 200 Jahre später noch unerlässlich für die scholastisch-thomistisch geprägte theologische Ausbildung. In Cod. 1226 liegt aus der Hand des Mathias von Erkelenz allerdings nur der vierte Band des Sentenzenkommentars vor (fol. 243v). Ob auch die ersten drei Bände in Hohenbusch vorhanden waren, ist anzunehmen, lässt sich derzeit aber nicht nachweisen.